Im Moment ist es auf Berlins Straßen ruhiger zwischen Autofahrern und Radfahrern. Der Schnee dämpft die Emotionen, die entspanntere Atmosphäre liegt aber auch daran, dass nicht viele Radfahrer unterwegs sind, die den Autofahrern das Revier streitig machen. Das ist ein günstiger Zeitpunkt, sich ein paar Gedanken zu machen über die sonst so präsente Aggressivität auf Berlins Straße, über den täglichen Straßenkampf zwischen Autofahrern und Radfahrern.
Das Magazin Tour hat das in seiner Ausgabe 2/2014 getan und kommt zu erstaunlichen Betrachtungen. Tour hat den täglichen Straßenkampf beobachtet, hütet sich aber vor einseitigen Schuldzuweisungen. Zwar konstatiert Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft, unter den Auto-Rowdys vor allem „schwache Persönlichkeiten mit geringer Selbstkontrolle, die ihr Revier verteidigen wollen“. Ein Auto sei für diese Personen einen gefährliche Waffe. Tour-Autor Jörg Spanial beschreibt haarsträubende Beinahe-Unfälle und Begegnungen mit Rambos auf vier Rädern, die jeder Rennradfahrer so oder so ähnlich wohl schon einmal erlebt hat. Auch die Schulmeisterei von Möchtegern-Polizisten in ihren Autos kommt nicht zu kurz. Das ist wie aus dem Berliner Leben gegriffen. Interessant ist auch die britische Studie, wonach der Abstand, mit dem Autos auf Landstraßen an Radfahrern vorbeifahren, sich seit 1979 von 1,80 Meter auf 1,20 Meter verringert hat.
Das Magazin stellt aber auch fest, dass Revierverhalten auch bei Radfahrern auftritt, wenngleich es nicht das gleiche Gefährdungspotenzial hat: in Gruppenfahrten den Überholverkehr blockieren, Autofahrer anpöbeln, die die Rennradgruppe überholen, bei Rot über die Ampel fahren und damit den kreuzenden Autoverkehr in eine riskante Situation hineinziehen, ohne Licht zu fahren und den Autofahrern die Verantwortung für die Unfallvermeidung aufbürden – die Sünden-Liste, die der Auto fahrende passionierte Rennradfahrer und Motorjournalist Jörg Maltzan aufschreibt, ist lang.
Das tägliche Duell auf den Straßen wird so zu einem Streit zwischen den Starken und den Schwächeren. Hier zieht jeder seine Register. Interessant ist dabei: Die meisten Verkehrsteilnehmer sind beides – Radfahrer und Autofahrer. Ein hübsches Fazit zieht Münchens Oberbürgermeister Christian Uhde: „Radler sind nicht anders als wir (gemeint sind Autofahrer). Wir sind anders, wenn wir radeln“.
Soll man nun jedem Autofahrer eine wöchentliche Radfahrt zur Selbsterfahrung im täglichen Straßenverkehr verordnen? Der Bundes-Verkehrsminister wird’s wohl nicht tun. Aber schön ist die Vorstellung schon. (Tour 2/2014, S. 111 ff.)