Meine Waden brennen, das Herz schlägt bis zum Hals, aus der Sonnenmütze tropft der Schweiß. Jede Kurbelumdrehung erfordert eine extra Kraftanstrengung, aus dem Sattel zu gehen, lindert die Anstrengung kaum, im Wiegetritt werden die Beine noch schneller müde. Längst habe ich einen „Tunnelblick“, achte nur noch auf die paar Meter Asphalt, die vor meinem Vorderrad liegen, nur ganz langsam dreht sich der Tacho. Aus Kilometern sind Hunderter-Schritte geworden, weiter als bis zur nächsten Haarnadelkurve kann ich ich nicht mehr denken, ich sehne sie wie eine rettende Ebene herbei, dabei geht es dahinter umso steiler bergauf.
Die „Königin der Alpenstraßen“
Es gibt Berge und Pässe in den Alpen, die höher sind als das Stilfser Joch – der Restefond/La Bonette (2802 Meter) und der Iseran (2770 Meter) in Frankreich. Doch als unbestrittene „Königin der Alpenstraßen“ gilt das Stilfser Joch (2757 Meter). Hier will ich hinauf, habe ich mir in den Kopf gesetzt, zumindest will ich den Versuch machen.
Die Auszeichnung verdankt der Pass den 48 Kehren, die sich auf der Nordseite vom Südtiroler Vinschgau atemberaubend zur Passhöhe hinaufschlängeln. Wie ein kunstvoll geschwungenes Band haben die Ingenieure die Straße in den Berg gemeißelt, sie windet und reckt sich in engen Kehren und kurzen, steilen Rampen über Wiesen und Geröll nach oben. Die Gletscher-Ausläufer des Ortler (3905 Meter) und die scharfkantigen Felsen zeigen es an: Hier ist Hochgebirge.
48 Kilometersteine stehen wie stumme Zeugen des Leidens am Straßenrand und unterteilen den Kreuzweg auf die Passhöhe in kleine Etappen. Das ist einerseits für die Orientierung sehr angenehm, sagt einem andererseits aber auch immer gnadenlos, wie weit es noch bis nach ganz oben ist. Ich bin in Trafoi gestartet, da, wo die Kehrensteine beginnen, auf 1532 Metern Höhe. Von hier sind es noch gut 16 Kilometer bis nach oben, durchweg bei 12 Prozent Steigung.
Erst geht es durch ein Waldgebiet, später wird die Strecke alpiner. Mein Kopf ist klar, ich habe noch einen Blick für die wilde Natur mit ihren schroffen Felsen und Gletschern. Immer wieder hat man einen atemberaubenden Blick. Doch die Strecke geht in die Beine. Das Hotel „Franzenshöhe“ auf 2188 Meter, eine ehemalige Nachschubstation für die Ortlerfront aus dem Ersten Weltkrieg, hat man nach zehn Kilometern erreicht. Es ist eine willkommene Zwischenstation.
Auf der Himmelsleiter
Dahinter geht es noch sechs weitere Kilometer aufwärts, und die haben es in sich. Wie eine Himmelsleiter reckt sich der Pass in die Höhe, Kehre um Kehre schmiegt sich die gewundene Strecke im steilen Gelände an das Gebirge.
Die ersten beiden Kilometer sind schwer, aber zu schaffen. Doch dann werden die Beine schwer, mein Puls rast, mein Kopf dröhnt, als wolle er platzen, meine Welt besteht nur aus Pedalumdrehungen, die ich aus mir herauspresse. Manch ein Rennradler überholt mich, scheinbar leichtfüßig scheint der eine oder andere vorbeizuziehen, viele fahren am Limit. Der Berg ist für alle gleich. Ich kann mich nicht mit den Tiroler Klettermaxen messen, will nur oben ankommen. Ich winde mich über die Kehren weiter, fahre die Kurven jetzt ganz außen, weil man so zwei, drei Kurbelumdrehungen lang im Flachen fahren und sich etwas erholen kann, bevor die 12 Prozent wieder an mir ziehen.
Nach jedem Kilometer jenseits der ersten beiden Kilometer gönnst du dir eine Pause, habe ich auf der „Franzenshöhe“ beschlossen. Doch wie lange dauert ein Kilometer? Der Tacho dreht sich unendlich langsam, wie eine kleine Ewigkeit kommen mit 600 Meter vor, 700, 800, 900. Da, eine Kehre, wie praktisch, ich mache eine kleine Pause. Gut drei Kilometer noch, ein fantastischer Blick nach unten und ein sorgenvoller nach oben: Wie weit doch drei Kilometer sein können! Den nächsten Kilometer schaffe ich erstaunlich gut, zwei Kilometer noch, es werden die längsten meines Radlerlebens. In einer Kurve stachelt mich ein Fotograf an, der von jedem Passfahrer, ob auf dem Rad, dem Motorrad oder im Cabrio, Aufnahmen macht. Ihm will ich nicht vor die Füße fallen. In der nächsten Kehre halte ich an, ich kann kaum mehr. Ich verschnaufe. Und fahre weiter.
Ist jemand schon 100 Meter vor dem Ziel gescheitert?
Ein Fahrer ruft mir entgegen: „Es ist nicht mehr weit!“ Jetzt stehen auch Entfernungsangaben auf der Straße. „1 km“. Ich mache noch einmal eine Pause. „500 m“, „200 m“, fast bin ich oben. Ist jemand 100 Meter vor dem Ziel schon gescheitert? Ich will es nicht sein, obwohl ich alles darum gäbe, ich müsste diese lächerlichen 100 Meter nicht mehr fahren. Wie lange braucht Usain Bold dafür? Mir kommen sie wie eine kleine Ewigkeit vor. Die Passhöhe ist zum Greifen nahe, Fußgänger laufen zu den Souvenirgeschäften, ich bilde mir ein, sie feuern mich an, und dann habe ich es geschafft. Wie ein Zielstrich nach einem endlos langen Rennen steht das Schild mit der Passhöhe vor mir. Ausgelaugt steige ich vom Rad, laufe herum, als müsse mir jemand zujubeln, die Waden brennen, meine Beine sind schwer, der Puls rast.
Ich gehe zu einem Restaurant, setze mich hinein und freue mich über meinen kleinen Sieg. Und wundere mich zwanzig Minuten später schon wieder: War es wirklich so schlimm? Ja, schon, aber die Erschöpfung ist auch bald verfolgen. Und im Lichte des Erfolgs schrumpft fast jede Qual. So scheint der Mensch zu sein. Die Abfahrt ist dann wie ein Rausch. Aber das ist eine andere Geschichte.
P.S. Gefahren bin ich mit einem Rose Pro SL, vorne mit einer Kompaktkurbel 50/34, hinten mit einem Zahnkranz von 11-30 Zähnen.